chevron-leftchevron-right

Zum Tod von Prof. Anatol Ugorski

„Klavierspiel ist nicht planbar, nur der Moment des Augenblicks zählt“ (Anatol Ugorski)

Mit großer Bestürzung und tiefer Trauer gibt die Hochschule den Tod ihres ehemaligen Klavierprofessors Anatol Ugorski bekannt. Er ist am 05.09. im Alter von 80 Jahren verstorben. Von 1992 bis 2007 war Ugorski Professor für Klavier an der HfM Detmold und vertrat nach seiner Pensionierung nochmals von 2010 bis 2014 seinen beurlaubten Kollegen Jean-Efflam Bavouzet. Für sein unprätentiöses, einzigartiges Klavierspiel wurde er weltweit gefeiert.

„Mit Anatol Ugorski verabschieden wir einen begnadeten Lehrer, unermüdlichen Zuhörer und eine große Künstlerpersönlichkeit. Sein künstlerisches und pädagogisches Vermächtnis lebt im Herzen vieler Menschen, die ihn erleben durften, weiter“, so Prof. Dr. Thomas Grosse, Rektor der HfM Detmold.

Ugorski hat Generationen von Detmolder Klavierstudierenden geprägt, von denen einige, wie Rinko Hama, Christian Petersen und seine Tochter Dina Ugorskaja, deren früher Tod einen schweren Schicksalsschlag bedeutete, selbst eine Professur antreten konnten. Unvergessen sind nicht nur seine zahlreichen Detmolder Konzertauftritte, sondern auch die geistvollen Vorträge, die er vom Klavier aus etwa über das Üben, über Beethoven, Scarlatti oder Skrjabin im Gartensaal der Hochschule gehalten hat. Sein Unterricht hatte nichts Akademisch-Pädagogisches, sondern war durch sein lebendiges Beispiel und die gemeinsame musikalische Erfahrung geprägt. Bezeichnend für ihn war seine unbestechliche Intuition und Menschenkenntnis, gepaart mit Humor und universeller Bildung.

Die Karriere des 1942 in Leningrad geborenen Pianisten sucht ihresgleichen. Ugorski wuchs mit seinen fünf Geschwistern in einem jüdischen Elternhaus auf. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Frühzeitig wurde er als Klavierschüler an einer Spezialmusikschule aufgenommen, ohne vormals Klavier gespielt zu haben. Seine Lehrer bezeichneten ihn als „unbegabt“, weil er sich jeglichen Einflüssen widersetzte. Mit 15 Jahren beherrschte der junge Pianist die gängige Klavierliteratur. Nach seinem Schulabschluss studierte er am Leningrader Konservatorium und gab ab 1962 öffentlich Konzerte. Ugorski war ein zutiefst politischer Mensch. Schon früh setzte er sich für zeitgenössische westliche Musik ein, die damals in Russland verpönt war. Als er 1968 bei einem Aufritt von Pierre Boulez lautstark applaudierte, wurde er von den damaligen Funktionären zum Dienst an der Bevölkerung abkommandiert. So begleitete Ugorski für 10 Jahre Chöre und trat vor Schulklassen auf. 1982 kann auch die politische Obrigkeit die einzigartigen Fähigkeiten des Pianisten nicht leugnen. Er erhält einen Ruf zum Professor am Leningrader Konservatorium. Auf den aufkommenden Antisemitismus in seinem Heimatland reagierte er schließlich mit Flucht nach Ostberlin. Dort lebte er zwei Jahre mit seiner Familie in einer Flüchtlingsunterkunft, bevor die amerikanische Schriftstellerin Irene Dische seine „Diabelli-Variationen“ hörte und ihn an die Deutsche Grammophon vermittelte.

Damit begann die Karriere des Pianisten, dessen Musik zuvor dem westlichen Publikum verwehrt blieb. Joachim Kaiser bemerkte 1992 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung: „Kann es wirklich sein, dass ein 49-jähriger Pianist unter uns lebt, der fast die die Glut des jungen Serkin besitzt, fast die Technik von Pogorelich, beinahe die Phrasier-Intelligenz von Afanassiew – und den gleichwohl, abgesehen von ein paar Insidern, Eingeweihten, kaum ein Beobachter der Klavierszene kennt?“. Die Antwort: „Ja“. Mit Skrjabins Klavierkonzert unter Pierre Boulez mit dem Chicago Symphony Orchestra wird Ugorski sogar für einen Grammy nominiert. Sein Publikum begeistert er mit Scarlatti, Brahms und Bach. Er wirkt als Juror beim ARD-Musikwettbewerb mit.

Die Momente spiritueller Vollkommenheit, wie er sie selbst in seiner Musik suchte, bleiben durch seine Einspielungen einem Weltpublikum erhalten. Unser Beileid gilt seiner Witwe und seinen Angehörigen.

Foto: Lilian Birnbaum

Auf Facebook teilen